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Text from page1
Wir fahren aus Theresienstadt
5000 Männer sitzen zusammengedrängt im Zug.
Bauschowitz versinkt hinter ihnen. Der Traum, mit der Familie
zusammenbleiben zu können, ist aus. Es geht, so fühlen es alle, ins Ungewisse.
Hineingequetscht zwischen Rucksäcken, Koffern und allen möglichen Gepäckstücken beginnen sie
die immer wiederkehrende Debatte: wohin? Nach Dresden, in ein Arbeitslager? Oder nach Mitteldeutschland? Keiner weiß etwas. Wie so oft hat man sie über die wahren
Absichten der SS im Dunklen gelassen. Zwischen Wachsein und Schlafen, im
eintönigen Waggonrythmus, klingt der Abschied vom Teuersten, die sie in Theresienstadt ließen, nach. Ja, die Mutter
hat sich brav gehalten, hat tapfer mit den aufsteigenden Tränen gekämpft und fest, fest
daran geglaubt, dass alles gut geht. Die Männer
wissen es: Das Teuerste, das sie bisher behütete, das für sie litt, es ist nun im
Ungewissen. Alle - die im Zug, die in Theresienstadt - tappen im Dunklen.
Station geistern vorüber: gerade noch erkennbar im verdunkelten Licht: Häuser,
Wald, Wiese - immer weiter rattert der Zug.
Dresden. Das
Ziel. Da sollten sie doch aussteigen. Doch wie so oft, es ist weiter kein wahres Wort an
allem gewesen, weiter geht die Fahrt. SS
Posten auf jeder Plattform. Wer irgend ein Papier aus dem Fenster wirft, wird erschossen. /Sie dürfen nicht die Wahrheit nach Theresienstadt schicken/. Die Männer
sitzen ernst im Zug. Rauchen… Wohin geht die Fahrt? Pessimisten melden sich schon:
in ein Konzentrationslager, aber nein. Man sagte und doch, dass… Ja, man sagte uns. Wann
hat schon die SS dem Juden gegenüber Wort gehalten? - - Weiter geht die Fahrt:
Bautzen,
Görlitz,
Neisse…
Einer denkt wieder an seine Frau.
Was mag sie wohl jetzt machen? Bemerkt auf seinem Platz den Rest eines Margarinepapiers und
wirft es achtlos aus dem Fenster. Die Tür springt auf, im Rahmen das wilde Gesicht der Untersturmführers, Transportbegleiters, schreit: Wer hat das Papier aus dem Fenster geworfen?
-Stille- Na wirds?
Furcht kriecht hoch. Der nimmt den Revolver, entsichert ihn. In
einer Minute weiß ich, wer das Papier rausgeworfen hat, sonst lege ich den ganzen Wagen
um
Schaut auf die Armbanduhr. Bleich steht einer auf, meldet sich: Es war nur
Margarinepapier, ich habe es hinausgeworfen.
- Du weißt, dass es verboten ist.
- Jawohl.
Noch bleicher wird er. Der Untersturmführer legt an, zielt - die da sitzen, fassen es noch nicht - schießt, der andere sinkt blutüberströmt nieder, lebt noch. Der Grüne tritt auf ihn
zu, schießt ihn in der Kopf, dann stößt er den leblosen Körper mit dem Fusse in einen
Winkel, geht hinaus. Das Blut strömt. Bedeckt den Boden. Die Männer
sind erstarrt. Es hat sie tiefinnerst erschüttert. War das möglich? Ein Margarinepapier. Ein
Mensch. Nicht hinsehen, wie das Blut fließt. Wo einer tot
liegt, der noch vor Minuten ihr Kamerad, ihr Leidensgenosse war, mit all den Hoffnungen und
Wünschen wie sie selbst hatten. Nun wissen sie es: man zählt sie nicht mehr als Menschen.
Jetzt sind sie ganz und gar in de Händen der SS.
Weiter geht die Fahrt, unberührt von dem Geschehen in dem Waggon.
Einer von vielen hat schon ausgelitten. Je weiter der Zug
rollt, Myslowitz, Gleiwitz, desto sicherer ist das Ziel: Auschwitz. Ein Arbeitslager? Was wissen sie darüber? Alles und nichts. Und dann noch ein paar
Stationen, der Zug hält, wird auf ein anderes Gleis geschoben und bleibt stehen.
Die 5000 sehen hinaus: Stacheldraht mit den weißen Isolierknöpfen. Für die, die vor ihnen
schon einmal in einem Lager waren, das bekannt Bild: das deutsche
Konzentrationslager.
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Text from page2
Schon springen weißblau gestreifte Sträflinge in den Waggon:
Raus, raus,
Alles Gepäck im Waggon lassen. Mitnehmen verboten.
Eine schmerzliche
Überraschung folgt der andern. Aufstellen zu zehnt…
Und da steht die Schlange der
5000. Schon willenlos. Eine Herde, Schaut und schaut. Sie wissen nicht, was mit ihnen
geschieht. Das Letzte, das sie an Kleidung und Lebensmittel hatten, bleibt zurück. Zur Verfügung der SS.
Gut genährte Sträflinge räumen schon die Waggons
aus. Kreaturen der SS. Versorgen sie mit Zigaretten, Armbanduhren, Gold. Die 5000
schließen auf. Sie sind in einem Wachtraum: Ist das alles wahr? Ist das möglich? Um sie
herum der Stacheldraht, elektrisch geladen: Verbrecher, ja zu Verbrechern wurden sie
gestempelt, weil sie Juden sind. Nun wissen sie es, was sie befürchteten. Vorbei der Traum
von all dem schönen, das sie noch besassen. Nur jetzt nicht denken an die Mutter,
nur weg, weit weg mit den Gedanken. Sie fühlen, wie es ihnen die Kehle zuschnürt, vor Augen
das Gesicht ihrer Lieben, die sie in Theresienstadt ließen. Sie denken nur: Gott schütze sie vor diesem Schicksal.
Dann stehen sie vor dem SS Mann. Alter
- 26
- Gesund?
- Ja
.
Kurzer forschender Blick, eine Handbewegung nach rechts. Alter?
- 52
-
Gesund?
- Kriegsverletzung am Arm
Der Daumen des SS
Mannes deutet nach links. Und so weiter. Der Sohn
wird vom Vater gerissen. Bruder vom Bruder.
Kann mein Vater mit mir gehen?
- Nein
sadistisch blickt der SS
Mann. Und weiter pflügt er sich durch den Haufen. Dann Abmarsch in die Blocks.
Verstummt sind 3000. Wo sind die andern? Keiner fragt laut. Eine ungeheure Spannung
herrscht. Der Sohn, ich habe ihm noch etwas Dringendes zu sagen vergessen, ich
muss doch zu ihm kommen. Bald, bald. --- Plötzlich Kommando: In die Sauna.
Die Schlange bewegt sich zur Sauna.
Ausziehen nackt.
Nichts darf ins Bad mitgenommen werden.
Willenlos werfen sie alles hin: Dokumente, das Bild des Vaters,
der Mutter, alles auf dem Boden. In den Schmutz. Jetzt gehen sie in den Baderaum. Dutzende Brausen. Handtuch und Seife werden verteilt. Sie trippeln
herum, warten auf das Wasser. Ein Sträflingsgesicht schaut durchs gummigedichtete Fenster: Fertig?
-
Jawohl.
Die Türen schließen sich. Eng wirds im Raum. Die drinnen schauen auf die
Brausen. Noch kein Wasser? Die Luft ist schlecht, es drückt so. Luft! Luft! Die Augen
quellen hervor. Sie wollen schreien. Können nicht. Schreien. Die Brust zuspringt. Gas!
Gas! Ich muss dem Sohn
noch etwas wichtiges sagen, ich sehe ihn schon: Ja ich sehe dich. Du bist so undeutlich,
meine Augen, ja was ist dann mit meinen Augen? Die Mutter,
ich wollte sie noch streicheln, und sie geht weg von mir. Immer weiter weg, ich… Mutter…
ich sehe dich nicht mehr… So sterben
sie. 3000. Wir, der kümmerliche Rest von sechs Millionen Juden denken an sie und an die, die
vor und nach ihnen sterben. Das Grauen
hat uns gezeichnet. Wir wissen um Leben und Tod.
Wir sprechen nur noch selten darüber und das Wort Familie
ist uns nur ein Schein aus einer fernen, fernen Zeit geworden.
Wir lächeln wieder, weil wir leben. Wir sehen die Sonne, den Frühling doch einsam bleiben
wir. Wir sehen die Menschen an, sie staunen über uns und machen mit uns Reklame, sie
verstehen uns nicht.
Einsam bleiben wir. --------------
Otto Kalwo